BVerfG, Beschluss vom 25.05.2021 – 2 BvR 1719/16. Aus den Entscheidungsgründen (unter Auslassung der zitierten Fundstellen):
„Das Gebot rechtlichen Gehörs gewährt den Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, im Verfahren zu Wort zu kommen, Anträge zu stellen und Ausführungen zu dem in Rede stehenden Sachverhalt, den Beweisergebnissen sowie zur Rechtslage zu machen. Darüber hinaus enthält Art. 103 Abs. 1 GG als weitergehende Garantie den Schutz vor Überraschungsentscheidungen. Da die Beteiligten gemäß Art. 103 Abs. 1 GG Gelegenheit erhalten sollen, sich zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt, den Beweisergebnissen und den Rechtsauffassungen vor Erlass der Entscheidung zu äußern, setzt eine den verfassungsrechtlichen Ansprüchen genügende Gewährung rechtlichen Gehörs voraus, dass die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welchen Vortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Dabei statuiert Art. 103 Abs. 1 GG zwar keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Gerichts. Die Parteien eines Zivilprozesses müssen, auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen. Es kann im Ergebnis aber der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte. Art. 103 Abs. 1 GG kann deshalb auch dann verletzt sein, wenn das Gericht durch eindeutig formulierte Hinweise seine Rechtsauffassung zu erkennen gibt und dann – ohne vorherigen Hinweis – von dieser abrückt, sodass den Prozessbeteiligten kein Vortrag zur gewandelten Rechtsauffassung mehr möglich ist.“
So wie es grundsätzlich Aufgabe der Parteien und vornehmlich der jeweiligen Anwälte ist, im Prozess den Sachvortrag zu strukturieren und zu den rechtlich relevanten Punkten von sich aus Stellung zu nehmen, so kommt dem zur Entscheidung berufenen Richter, der auch den Verhandlungsvorsitz führt und die Diskussion lenkt, auf der anderen Seite die Verantwortung zu, mit den Parteien und Anwälten transparent umzugehen. Gerade im Rahmen der mündlichen Verhandlung werden einzelne Voraussetzung eines geltend gemachten Anspruchs oftmals unter dezidierter Bekanntgabe der Auffassung des Gerichts zu den einzelnen Punkten der Reihe nach durchgeprüft. Dies soll den Parteien eine bessere Prognose des Verfahrensausgangs ermöglichen und im Sinne aller Beteiligten auch die Vergleichsbereitschaft fördern. Es wäre völlig kontraproduktiv, wenn die Parteien nicht auf die – wenn auch nur vorläufig – geäußerte Auffassung des Gerichts vertrauen dürften. Daher ist es nur folgerichtig, wenn das Gericht, dem es natürlich freisteht, im Laufe des Verfahrens seiner Rechtsauffassung zu ändern, dann aber explizit darauf hinweist und den Parteien die Möglichkeit einräumt, sich auf diese Veränderung einzustellen und die vor diesem Hintergrund erforderlichen Angriffs- und Verteidigungsmittel in den Rechtststreit einzuführen.
Eugen Kalthoff
Rechtsanwalt
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